Wir bleiben in Osteuropa: Vom Balkan geht’s ins Baltikum – nach Lettland. In puncto Fläche ist das 64.589 km² große Land an der Ostsee ein Zwerg. Doch was Artenvielfalt angeht, ist Lettland ein wahrer Riese. Ein Zehntel des Landes ist als Naturschutzgebiet ausgewiesen. 15.000 Pflanzen- und 13.000 Tierarten sind in den dichten Wäldern und ausgedehnten Mooren beheimatet. Darunter intakte Populationen von Tieren, die sonst als selten gelten: Wisent, Wolf, Fischotter, Biber, Schreiadler oder Weißrückenspecht. Ob wir welche sehen auf dem Weg zu unserer Kamille?
Einwohner:innen: 2 Millionen
Hauptstadt: Riga
Sprache: Lettisch
Typische Namen: Alise, Grieta, Lilija, Andris, Gustavs, Lauris
LEBENSBAUM bekommt von hier: Kamille
Zunächst müssen wir jedoch die 1.500 Kilometer Luftlinie nach Riga bewältigen. Zugfahrt? Fehlanzeige! Eine über 36-stündige Kombination aus Bussen und Zügen könnte uns nach Lettland bringen. Das hatten wir uns beim Planen der Reiseroute einfacher vorgestellt. Wir entschließen uns schweren Herzens, zu fliegen – Zwischenstopp: Wien. Beim Landen denken wir, das könnte auch Hannover sein. Nach „Perle des Baltikums“, wie Riga genannt wird, sieht das noch nicht aus. Ein Fahrer holt uns ab. Als wir endlich das
historische Zentrum der alten Hansestadt erreichen, übertrifft es all unsere Erwartungen: mittelalterliche Gemäuer, traditionelle Holzarchitektur und herrliche Jugendstilbauten. Mal farblich schlicht, mal fast bonbonfarben. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Ganz klar, warum Rigas Innenstadt UNESCO-Weltkulturerbe ist!
Staunen strengt an. Die malerischen, sattgrünen Parks entlang des Daugava- Kanals laden zu einer Verschnaufpause ein. Im Kronvald-Park machen wir zwischen farbenprächtigen Blumenbeeten Pause. Hier könnten wir bleiben. Vielleicht noch ein Eis? Doch unser Anbaupartner Gundars hat es eilig. Und so geht es flugs Richtung Nordosten. Dort, auf den sandigen Lehmböden, umgeben von Wäldern, wächst unsere Kamille. Nach eineinhalb Stunden Fahrt kommen wir an. Und uns erwartet schon wieder ein Anblick, der uns staunen lässt: 80 Hektar Kamille in voller Blüte. Gelb-weiße Blütenköpfe, soweit das Auge reicht. Die Aufregung, ein für uns neues Land zu entdecken, verschwindet im Nu. Ob das schon die beruhigende Wirkung der Kamille ist? Gut für den Bauch soll sie ja auch sein. Das brauchen wir, denn langsam fangen unsere Mägen an zu knurren. Ach, hätten wir doch das Eis …
Gundars erklärt, warum er es heute so eilig hat: Der perfekte Erntezeitpunkt für Kamille ist an einem trockenen und sonnigen Tag wie heute, am besten gegen Mittag. Dann ist der Anteil an ätherischen Ölen am höchsten, die Kamille hat den optimalen Wirkstoffgehalt. Also schnell rauf auf den Spezialmäher, der mit Kammleisten die zarten Blüten samt Stielen behutsam abschneidet. Mit vollem Anhänger geht es zur Verarbeitungshalle. Die Uhr tickt, die Kamille muss ruckzuck auf den warmen Trockenboden. Dann hat sie etwas Zeit: 24 Stunden lang trocknet sie bei 30 Grad. Danach wird sie verpackt und zu uns nach Diepholz geschickt. Wir lernen hier viel Neues, hören nicht nur „olle Kamellen“. Moment mal – Kamellen, Kamille? Gibt es da einen Zusammenhang? Tatsächlich, der Ausdruck „olle Kamellen“ stammt aus dem Niederdeutschen und bedeutet „alte Kamille“. Wird diese zu alt, verliert sie an Wirkung. Ist somit nutzlos – wie alte Nachrichten.
Unser Wissensdurst ist gestillt, unser Hunger noch nicht. Doch Abhilfe naht. Als perfekter Gastgeber tischt Gundars lettische Küche vom Feinsten auf. Wir starten mit aukstā biešu zupa, einer kalten Rote-Beete-Suppe, dazu gibt es geröstetes Knoblauchbrot. Als Hauptspeise landen pelēkie zirņi ar speķi – graue Erbsen mit Speck – auf unseren Tellern. Klingt nicht besonders appetitlich, schmeckt aber außerordentlich gut. Schwarzbrot ist beliebt in Lettland. Da wundert es uns nicht, dass es zum Nachtisch maizes zupa gibt, eine süße Schwarzbrotsuppe. Irgendwie exotisch und bodenständig zugleich. Laut Gundars darf beim lettischen Abendessen einer nicht fehlen: Lettlands berühmter Schwarzer Balsam, ein hochprozentiger Kräuterlikör.
Der Schwarze Balsam scheint uns wehmütig zu machen. Wir horchen in die Stille der lettischen Weiten und hören sie rufen – die Heimat. Zeit, uns mal wieder zu Hause blicken zu lassen. Auf dem Weg werden wir im UNESCO-Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in der wunderschönen Uckermark halten. Von dort bekommen wir Fenchel – Erntezeit: Herbst. Na, das passt doch.